Auf einem Granitplateau des Riu d’Oliena Tals, im Zentrum der Barbagia, liegt Nuoro. Diese Stadt, Verwaltungssitz und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, bildet beinahe sogar den geographischen Mittelpunkt, das Herz Sardiniens.
Die ersten urkundlichen Erwähnungen der Stadt, deren Einwohner heute noch von „Nugoro“ sprechen, stammen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Es kann jedoch als sicher gelten, dass hier schon zu vorgeschichtlicher Zeit eine erste Siedlung errichtet wurde.
Doch von seiner langen Geschichte ist Nuoro mit seinen tristen Neubauvierteln, seinen hässlichen Betonriesen, den faschistischen Monumentalbauten und den Gewerbegebieten heute kaum noch etwas anzusehen. Allein der alte Stadtkern mit seinen engen Gassen, Winkeln und kleinen Granithäusern trägt noch Spuren der dörflichen Prägung dieser einstigen Bauern- und Hirtensiedlung. Im Jahr 1779 wurde Nuoro zum Bischofssitz und erhielt 1836 schließlich die Stadtrechte verliehen. Doch der wirtschaftliche Aufstieg und die damit einhergehende rasante Entwicklung setzten erst mit der Ernennung zur Provinzhauptstadt im Jahre 1926 ein.
Über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist Nuoro für drei Dinge. Zum einen eilte der Stadt noch bis in die 1970er Jahre ihr zweifelhafter Ruf voraus ein Nest von Gaunern und Banditen zu sein und ihr Gefängnis „supercacere di Badu’e Carros“ erinnert noch heute an die berüchtigten Gangsterjagden, welche die Polizei von Nuoro aus organisierte.
Zum anderen geben sich hier Trachtengruppen aus ganz Sardinien jährlich im August ein Stelldichein, um aus Anlass des traditionellen Volksfestes „Sagra del Redentore“, dem Fest des Erlösers, auf den Gipfel des Monte Ortobene zu der dort stehenden Christusstatue zu ziehen und dort oben einen feierlichen Gottesdienst zu zelebrieren. Im Anschluss an die Messe in der Wallfahrtskirche Madonna de su Monte wird im Amphitheater der Stadt mit traditionellen Tänzen, Musik und kulinarischen Spezialitäten groß gefeiert.
In nur acht Kilometer Entfernung ist der Monte Ortobene jedoch auch in der restlichen Zeit des Jahres ein attraktives Ausflugsziel mit zahlreichen Picknickplätzen, einem Hotel und einigen Restaurants.
Vorbei an der mächtigen Granitlandschaft und kleinen Quellen, durch Macchia und dichte Eichenwälder gelangt man auf den nicht ganz 1.000 Meter hohen Gipfel „Cuccurie Nieddu“ (955 m), wo eben nicht nur die imposante, sieben Meter hohe Bronzefigur des Erlösers, ein Werk des Bildhauers Jerace aus dem Jahr 1901, auf einen wartet, sondern ein wunderschönes Panorama der Barbargia, der Gennargentugipfel und des wilden Supramonte-Massivs.
Der dritte Grund für Nuoros hohen Bekanntheitsgrad ist die Tatsache, dass die Stadt Geburtsort einiger berühmter sardischer Künstler, wie zum Beispiel des Schriftstellers Sebastiano Satta (1867 – 1914), des Dichters Salvatore Satta (1902 – 1975) und des Bildhauers Francesco Ciusa (1883 – 1949) ist.
Die bekannteste Tochter der Stadt ist jedoch zweifellos die Nobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871 – 1936). Ihre letzte Ruhe fand die Schriftstellerin in der kleinen, von Giovanni Ciusa 1959 errichteten Kapelle Nostra Signora della Solitudine.
In einem der ältesten Stadtviertel Nuoros findet man in der Via Grazia Deledda auch das Geburtshaus der Nobelpreisträgerin, in dem heute ein Museum untergebracht ist. Hier kann man neben ihren Büchern und den Programmen ihrer Theaterstücke auch die Kopie ihrer Urkunde des Nobelpreises besichtigen.
Zur Erinnerung an eine andere berühmte Persönlichkeit der Stadt wurde zu Ehren des Dichters Sebastiano Satta der Platz auf dem sein Geburtshaus steht, die Piazza Sebastiano Satta, mit Bronzestatuen des Künstlers Costantino Nivola (1911 – 1988) geschmückt, die Episoden aus dem Leben und Schaffen des Künstlers darstellen.
Mittelpunkt Nuoros sind die beiden Flaniermeilen und Hauptgeschäftsstraßen Corso Garibaldi und Via La Marmora, die sich mit zahlreichen Bars, Cafés und Lebensmittelgeschäften einmal quer durch die ganze Stadt ziehen. Hier lassen sich nach Herzenslust sardische Wurst- und Käseköstlichkeiten, Obst, Gemüse, exquisiter Honig und verführerische Gebäckspezialitäten erwerben.
Am westlichen Ende des Corso Garibaldi, an der Piazza delle Grazie lohnen die Kirche Nostra Signora delle Grazie mit dem daneben liegenden Sanktuarium, im 17. Jahrhundert durch Nicolao Ruju Manca erbaut, einen Besuch. Am entgegen gesetzten Ende des Corsos, auf der Piazza Mazzini, findet sich die klassizistische Kathedrale Santa Maria della Neve mit dem unauffälligen Domkapitel aus dem Jahr 1853 und dem Priesterseminar.
Auch Nuoros Museumslandschaft hat einiges zu bieten. Neben den außerordentlichen Fossilienfunden des Civico Museo Speleo-Archeologico und den Wechselausstellungen lokaler, nationaler und internationaler Werke im Museo d’Arte, stellt das „Museo della vita e delle tradizioni popolari sarde“, auch als „Museo del Costume“ bekannt, die Attraktion unter den Museen der Stadt dar. Die 18 Ausstellungsräume dieses Volkskundemuseums finden sich in einem Nachbau eines typisch sardischen Dorfes mit Höfen, Gassen und Treppen, ein Entwurf des Architekten Antonio Simon Mossa, der in den 1960er Jahren realisiert wurde. Die hoch interessante Sammlung gewährt einen umfassenden Überblick über sardische Traditionen und präsentiert Trachten aus allen Regionen der Insel, Musikinstrumente, Schmuck, Hand gewebte Teppiche, Körbe, kunstvoll geschnitztes Mobiliar, Waffen sowie Messing- und Silberknöpfe. Highlights der Ausstellung sind die berühmten Karnevalsmasken der Barbagia und die Brotausstellung, welche mit über 500 verschiedenen Backwaren die sardische Kunst des Brotbackens dokumentiert.
Daneben biete das Museum noch eine Bibliothek mit ethnologischer Literatur und stellt zudem den Veranstaltungsort für das im zwei Jahres Rhythmus stattfindende Festival ethnografischer und kulturanthropologischer Filme.
Oberhalb des Volkskundemuseums beginnt der Weg zum Colle Sant’Onofrio. Auf rund 590 Meter Höhe lässt sich von dort ein herrlicher Blick auf das Tal, den Monto Ortobene samt Erlöserstatue und den Supramonte genießen.
Nuoro mag nicht bloß auf den ersten Blick keine Schönheit sein, doch wer sich auf die verborgenen Schätze der Altstadt und ihren unverkennbaren Reichtum an Kunst und Kultur einlässt, der wird einen Besuch dieser Stadt sicher nicht bereuen.